Erinnerung und Intervention: Handlungskonzepte für eine aktive Erinnerungskultur zum NSU, Chemnitz 2016

Akteur-Slot im Fritz-Heckert-Gebiet, Chemnitz, 6. November 2016, Foto: Susanne Keichel

Im Rahmen des Theatertreffens „Unentdeckte Nachbarn“ in Chemnitz im Oktober/November 2016 bot ein Akteur-Slot Raum, an konkreten Formen der Aufarbeitung, Aufklärung der NSU-Verbrechen und deren Erinnerung mit zu planen und zu wirken. 

Gemeinsam mit der Künstlerin Susanne Keichel, mit Jane Felber (damals Kulturbüro Sachsen) und Kathrin Krahl (Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen) waren wir vor Ort und haben an Interventionen gearbeitet, die Fakten, Wut, Trauer und Empathie mit den Opfern in den öffentlichen Raum tragen. Das Neue an diesem Akteur-Slot war, dass die Diskussionen nicht mittels Worten und Papier geführt wurden, sondern über künstlerische Interventionen am Ort von Verbrechen und Strukturen des NSU.

Ziel war es, den Finger in die Wunde zu legen und etwas zu hinterlassen.

Versorgungszentrum. Der NSU in Chemnitz

Kathrin Krahl (Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen), 2017

Dort, hinter dem Plattenbau, ist das Versorgungszentrum. 

(Dominique, der Stadtforscher, am 6. November 2016)

Wikipedia: Versorgungszentren im Heckert-Gebiet

VZ Max-Türpe-Straße mit Restaurant „Südblick“
VZ Robert-Siewert-Straße mit „Treffpunkt Kulturhaus Markersdorf“
VZ Paul-Bertz-Straße mit „Kulturzentrum Fritz-Heckert“ und Restaurant „Südring“ (2012 abgebrochen)
VZ Alfred-Neubert-Straße mit Restaurant „Baikal“
VZ Kappel, Stollberger Str.

VERSORGUNGSZENTRUM ist das Wort, auf das wir auf dem Stadtplan während der Führung zur Geschichte und zu den Verbrechen des selbsternannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) durch das Fritz-Heckert-Gebiet stoßen. Die Chemnitzer führen dieses Wort ganz selbstverständlich im Mund. Die Dresdner kennen es nicht. Mit jeder Station der Führung werden das Verbrechen und der Alltag des NSU und ihrer Unterstützer deutlicher. Alltag heißt Normalität, nicht Auffallen, nicht exklusiv sein.

Wir stoßen auf das Versorgungszentrum Max-Türpe-Straße. Dort spielte der NSU an Automaten. Langweile und Alltag. Das Gebäude ist geschröpft – post-sozialistisch wie das ganze Viertel. Die einst gepflegten Gebäude gehen in den Zustand der Verwahrlosung über. Es sorgt sich niemand um sie. Dieses Klima ist optimal: Alltagsrassismus, Gewalt, Durcheinander, „ich habe mit mir selbst zu tun“.

Station um Station wird deutlicher, dass dieses Viertel mit dem EDEKA, dem ersten Raubüberfall, den Nazi WGs, der rechten Hegemonie, der Gewalt gegen Linke und Migrant*innen, den Nachbar*innen, die alles sehen, nur keinen Rassismus, das Versorgungszentrum des NSU war und ist.

Wir gehen weiter und planen!

Es gibt hier keine Relikte der Opfer, der Ermordeten und Überlebenden des Terrors, wir stehen hier vor den Alltagsrelikten des NSU.
Dieses Umfeld hat die Morde möglich gemacht. Einige Personen aktiv als UnterstützerInnen durch Anmietung von Wohnungen, durch Konzerte, durch die Möglichkeit, ganz alltäglich ein Bier trinken zu gehen oder zu spielen. Andere durch das Wegschauen oder Akzeptieren einer rechten und rassistischen Alltagskultur. Die Spuckis auf der Tour können ein Lied davon singen. Mülltonnen, die abgesperrt sind, hier ist alles sauber. Aber der rassistische oder sexistische Aufkleber irritiert bis heute nicht im Versorgungszentrum.

Aber wir fallen auf. IRRITATION. Da spazieren Leute mit Hosen, in die Socken gesteckt, durch unser Viertel. Ein böser Blick. Kein Alltag für uns denkbar. Na dann machen wir eben das Versorgungszentrum kenntlich. Mit Gaffa-Tape schreiben wir das in großen Lettern an die Verschläge vor den Fenstern des ehemaligen Versorgungszentrums. Wir führen große, über drei Meter lange Holzlatten mit uns.

Wir lassen sie fallen: hintereinander, übereinander, nebeneinander. Ein Netzwerk entsteht …, das Netzwerk des NSU. Wir verbauen den Eingang zum Versorgungszentrum. Wir versperren die Sicht. Aus anderen Latten wird eine Schutzhütte. Wieder andere richten wir verteidigend den Stummen entgegen.

Kleine Gesten als Annäherung an diesen doch bösen Ort.